Oskar Thulin

 "Die Lutherstadt Wittenberg und Torgau"

 1936 Deutscher Kunstverlag

 
     

 

Vierzigmal wohl haben die Stadt Torgau und Schloß Hartenfels Luther in ihren Mauern gesehen. Man hat nicht ohne Grund gesagt, daß Wittenberg die Mutter, Torgau die Amme der Reformation gewesen sei. Überall bestehen engste Beziehungen zu den Wittenberger Männern. Das prächtige Schloß der Kurfürsten mit der von Luther eingeweihten Schloßkapelle; die Stadtkirche mit dem Grabe der Käthe Luther und der Sängerempore des Johann Walther, Luthers vertrauten Mitarbeiters bei der Schaffung eines evangelischen Gesangbuches; berühmte Latein- und Bürgerschulen, die auch Luthers Kinder besuchten; das Haus, in dem man die Torgauer Artikel als Vorbereitung für das Augsburgische Bekennmis aufstellte.

Das Bündnis Johanns des Beständigen mit Landgraf Philipp von Hessen ebenso wie die ersten lutherischen Bisitationsartikel zum Aufbau der evangelischen Landeskirche sind in Torgau zustande gekommen.

Die Stadt selbst ist vielleicht noch älter als Wittenberg. Ein slawischer Marktflecken Torgowy war schon ziemlich bedeutend, als man die Burg auf dem Porphyrfelsen - das spätere Schloß Hartenfels - als Grenzburg zur Germanisierung des Landes und zur Sicherung des Elbüberganges ausbaute. Die deutsche Stadt im Schutze der Burg überflügelte bald die alte sorbische Siedlung; das Geschlecht derer von Torgau saß lange Zeit als Befehlshaber in der Burg, die im Übrigen immer Fürstenbesitz, sehr früh schon Sitz der Wettiner war. Noch aus romanischer Zeit stammen die ältesten Bauten am Schloß, an Stadt- und Nikolaikirche. Auch in Torgau brachte das 15. Jahrhundert große Erweiterungen, zum Teil Neubauten, wie die Hallen der Stadt- und Franziskanerkirche. Aber ähnlich wie in Wittenberg war es die Zeit der Ernestiner, die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts, die Schloß und Stadt das entscheidende Gepräge gab. Die Renaissance und der Barock haben das Bild mit Turmaufbauten und dem Rathausbau, mit einzelnen Erkern und Giebeln vollendet. Kriegsschicksale dezimierten im Dreißigjährigen Krieg die Bevölkerung und Napoleons eiserner Wille machte 1812 die Stadt, die bisher mehr nur eine befestigte Stadt war, zu einer starken Festung unter Beseitigung der Vorstädte und Anlage von starken Forts und einem Gürtel von Schanzen. Mit der Erstürmung durch die Preußen am Weihnachtsfest 1813 vollendete sich auch Torgaus Festungsschicksal, bis man 1888 endgültig den kriegerischen Panzer der Stadt beseitigte.

 

Zu seinem großen Erstaunen sah Kaiser Karl V., als er nach der Schlacht bei Mühlberg als Sieger im Schloßhof einritt, ein Schloß, wie er es selten gesehen hatte: "Es ist eine recht kaiserliche Burg", rief er voll Bewunderung aus. Noch heute hat man den gleichen überwältigenden Eindruck, mag man nun den imposanten Bau von der Elbseite aus betrachten oder von der Stadt aus sich dem Schloß nähern. Feinheiten der Architektur und Kostbarkeiten der Bauplastik, die dem Wittenberger Schloß durch mehrfache Beschießungen in so weitem Maße verloren gingen, sind hier zum großen Teil noch erhalten, so daß wir uns im Blick hierauf auch das ehemalige Bild des Wittenberger Schloßhofes in ähnlicher Weise ergänzen dürfen. Was bei Beginn des Neubaues schon stand, war der vom Eingangsportal aus nach links anschließende Teil und der Albrechtsbau zur Rechten, den Konrad Pflüger seit 1470 erbaute. Die Martinskapelle im linken Flügel gehört wohl mit zum ältesten Teil der Burg. Friedrich der Weise und sein Bruder Johann der Beständige begnügten sich noch mit diesem Bestand des Schlosses. Erst mit Johann Friedrich kam der monumentale Abschluß des Schloßhofes durch den grandiosen Mittelbau (Johann-Feiedrichs-Bau) gegenüber dem Haupttor, mit dem links anschließenden Neubau über den alten Grundmauern der Martiuskapelle uud älterer Schloßteile.

 

Nun war der Ring geschlossen. Konrad Krebs hatte das Erbe Pflügers in der Bauleitung angetreten, und zu seinem gotischen, mit wenig Schmuckmotiven ausgestatteten Entwurf kamen jetzt auf ausdrücklichen Wunsch Johann Friedrichs hin starke Belebungen durch Renaissancenbauten. Er ließ 1533 seinen Baumeister nach Nürnberg kommen, wo er am Reichstag teilnahm, und brachte ihn mit dem Bildhauer Peter Flötner zusammen; jetzt bekam die breite Fläche des Mittelteiles mehr Leben durch die Gliederung der Pfeiler, die Rundbogenabschlüsse der Portale und Turmöffnungen, den reich mit Bauplastik geschmückten Laufgang und vor allem durch den Wendelstein, der an die Stelle des zuerst geplanten einfachen, runden Treppenturms trat. Krebs selbst war nie in Italien gewesen, aber Peter Flötner vermittelte ihm den Formenschatz der neuen Baugedanken. Die Erker und Giebel entstanden, so daß der riesenhafte Bau jetzt aufgeteilt wurde und die Massen und Flächen alle Schwere verloren, auch der hohe Eckturm hinter den offenen Bögen des Umganges von aller Last befreit aufstieg.

 

Doch alle Schönheit der Architektur findet ihre Krönung in dem Wunder des Wendelsteins, der wie ein Wächter und Herrscher zugleich vor der Mittelfassade steht. Auf einem quadratischen Altan ragt dieser Treppenturm empor, man weiß nicht, ob man ihn zur Architektur oder zur Plastik rechnen soll. Was an Schwere und Erdgebundenheit in einem solchen Turm in Erscheinung treten müßte, ist hier weggezaubert. Bekam die gotische Schloßfront durch die lang durchgezogenen Fensterreihen und Balkone ihren breitgelagerten Renaissancecharakter, so scheint dieser ausgesprochene Renaissancebau des Wendelsteins in seinen aufschießenden Pfeilern, seiner Auflösung sämtlicher Wände, in der Aufhebung jeglicher Trennung von Innen und Außen noch einmal den letzten höchsten Formwillen der Gotik in sich aufgenommen zu haben - ähnlich dem Schlußgewölbe des kleinen Wendelsteins, das denselben Geist überzüchteter, erdenferner Kunst in spätgotischem Gewande zeigt. Man muß den großen Wendelstein im Hinaufschreiten zu sich sprechen lassen; die Achse, um die der Aufgang kreist, ist hohl, überhaupt nicht mehr da, ist nur im Durchblick als ideal gedacht zu erkennen. Man hat mit Recht als Schlußstein das Porträt des genialen Baumeisters eingesetzt.

 

Die neue Schloßkapelle hat Nickel Grohmann nach Krebse Tod vollendet; ein wohlgelungener Zweckbau an der Wiege des protestantischen Kirchenbaues, von Luther selbst 1544 im Festgottesdienst eingeweiht, woran noch die zeitgenössische Bronzegedenktafel und die erhaltene Festpredigt erinnern. Es ist ein einfacher rechteckiger Bau, von Emporen umzogen, ähnlich der Wittenberger Schloßkirche; an der Mitte der Längswand die Kanzel, an der einen Querwand der Altartisch mit später hinzugefügtem Aufbau (Reliefarbeiten des Dresdners Sebastian Walther, vermutlich unter Einfluß des Niederländers Cornelis Floris), unsicher bleibt nur die ehemalige Stelle der Orgel. Der geringe bildliche Schmuck an Kanzel (der zwölfjährige Jesus im Tempel, die große Sünderin, die Tempeaustreibung) und Altar steht im engsten Zusammenhang mit den Glaubenssätzen der Reformation, die die Realität der Sünde durch die größere Wirklichkeit der Gnade und die Glaubensbereitschaft der Menschen überwunden sieht und nur diesen Verkündigungscharakter der Kirche anerkennt. Es ist die erste unter Luthers Mitwirkung gebaute protestantische Kirche, eine Kapelle nur, nicht mehr; ein Symbol der gesamtprotestantischen Kirche, die weiß, daß auch ihr irdisches Gebäude nur um des kommenden Reiches willen da ist.

 

Prachtbauten hat auch Torgau nicht gleich am Beginn seiner Stadtgeschichte geschaffen. Eine flachgedeckte Basilika mit Querschiff aus dem 12. Jahrhundert stand einst an der Stelle der heutigen Stadtkirche. Noch ist ein Teil der alten Doppelturmfassade erhalten, deren Südturm 1742 nach einem Blitzschlag eine Barockbekrönung bekam. Die große weite Hallenkirche entstand doppelt so groß wie die alte Kirche am Ende des Mittelalters, 1516 war der Außenbau vollendet. Ein großer kaum erhöhter Chor schließt den Raum im Osten ab. Die Südwand der Kirche öffnet sich neben der Sakristei zu dem Singechor Johann Walthers. Hier sind zum ersten Male, in der Hauptsache vom Knabenchor gesungen, seine vierstimmigen Choralsätze erklungen, die er in enger Zusammenarbeit mit Luther  schuf. Nun ruht in dieser Kirche Katharina von Bora, gleich als gehörte das Haus Luther auch zu Torgau und dem dortigen Freundeskreis. Der Grabstein zeigt eine bewußte, energische Frau, die in ihrem häuslichen Reich es oft nicht leicht hatte bei den vielen Gästen und Luthers Großherzigkeit. Der Reformator wußte, was er an seiner Frau hatte, die er scherzhaft "Herr Käthe" nannte und hoch verehrte.  Höfisch zart wirkt daneben die schöne Bronzeplatte der Kurfürstin Sophie aus Peter Vischers Werkstatt, das Grabmal der 1503 verstorbenen Gemahlin des Kurfürsten Johann.

 

Die Predella eines von Friedrich dem Weisen und Johann dem Beständigen gestifteten Altars ist der Kirche erhalten geblieben: die 14 Nothelfer, vom älteren Cranach noch vor der niederländischen Reise des Jahres 1508 fertiggestellt. Das Gemälde zeigt eine beängstigende Fülle von Heiligen, gar nicht überirdischen Gestalten, voller Realistik gemalt. Der einst dazu gehörige Flügelaltar aus dem Jahre 1509, mit den fürstlichen Brüdern links und rechts und der Heiligen Familie auf dem Mittelbild, wanderte 1547 mit Kaiser Karl V. nach Spanien und blieb lange Zeit verschollen, bis er im Jahre 1906 für das Städelsche Institut in Frankfurt a. M. erworben werden konnte. Er ist eins der bedeutendsten Frühwerke des Meisters.

 

In reichem Maße sind in Torgau Bürgerhäuser des 16. und 17. Jahrhunderts erhalten, z. T. in schlichter gleichmäßiger Bauform der späteren Gotik, einstöckig oder zweistöckig, mit hohem Dach, z. T. mit schönen Renaissancegiebeln. In der Pfarrstraße, Ritterstraße, Schloßstraße trifft man noch eines neben dem anderen, dazu manch schönes Portal (besonders in ber Schloßstraße). Imposant ist ebenfalls das Rathaus, breit gelagert am großen Markt, aus den Jahren 1563-65. Spätere Restaurierung hat hier eine nicht so glückliche Hand gehabt wie in Wittenberg, aber einzelne Bauteile, wie der Erker, sind noch unversehrt in ihrer alten Schönheit erhalten.

 

Oft war Luther zu ernsten Beratungen mit Justus Jonas und anderen Theologen sowie Vertretern des Kurfürsten in Torgau, Melanchthon nicht weniger häufig in der Stabt der berühmten Lateinschule. Aber vom Schloß Hartenfels klang auch oft das Hifthorn zum fröhlichen Jagen, wenn Luther hier war. Einmal ist er mitgezogen; heimlich hat er einen gefangenen Hasen wieder entwischen lassen und muß dann gleich an eine Psalmstelle denken, die von der geängsteten Menschenseele spricht: Alles wird ihm zum Gleichnis. Es ist wie im Märchen, alles verwandelt sich in seinen Händen zu Gold. Am schönsten aber war es, wenn die Frau Musika ihm zur Seite stand. Von Wittenberg und Torgau aus hat sich die Reformation in die Herzen des Volkes hineingesungen.

 

Man kann Torgau nicht sehen ohne die drei großen reformatorischen Kurfürsten und den Reformator, der so oft hier weilte; nicht ohne den Musiker der Reformation, Johann Walther, der hier wirkte. Man kann an Torgau nicht denken, ohne den Klang lutherischer Choräle und Lieder zu hören.

Oskar Thulin "Die Lutherstadt Wittenberg und Torgau" 1936 Deutscher Kunstverlag